Zuletzt waren wir mit unserer Familie in Südfrankreich, im schönen Ort Sanary-sur-Mer. Hoch über dem Hafen erhebt sich die Chapelle Notre-Dame-de-la-Pitié (Unsere Liebe Frau der Barmherzigkeit), die seit 1560 über das Meer blickt und noch heute zur Einkehr, zum Gebet und zur Heiligen Messe am Samstagmorgen einlädt.
Wie schon bei unseren früheren Besuchen in Sanary nutzten wir häufig die Gelegenheit, in der Kapelle zu beten und an der Heiligen Messe teilzunehmen. Besonders beeindruckt haben mich die unzähligen Votivtafeln dort, die über die Jahrhunderte hinweg vom ungebrochenen Glauben der Menschen Zeugnis ablegen. Sie erzählen von Dankbarkeit, Hoffnung und Vertrauen und haben mich auf ihre Weise neu zum Nachdenken gebracht.
Ursprünglich Notre-Dame de la Garde genannt („Unsere Liebe Frau, die wacht“, es ist schwierig, dieses wörtlich zu übersetzen), wurde die Kapelle von den Einwohnern von Saint-Nazaire , insbesondere von der Gemeinschaft der Fischer, errichtet. Saint-Nazaire war der damalige Name für das heutige Sanary-sur-Mer. Die Kapelle hatte von Anfang an eine Wächterfunktion für Gefahren, denn von dem damals noch kargen Hügel bot sich eine weite Sicht auf das Meer.
In den folgenden Jahrhunderten wurde die Kapelle fast durchgängig von Eremiten betreut. Sie führten ein Leben des Gebets, pflegten die Kapelle und beobachteten das Meer. Bei Unwetter oder drohenden Gefahren läuteten sie die Glocke, um Boote zu warnen oder die Gemeinde zu alarmieren, z.B. diente die Kapelle 1707 als Wachposten gegen eine mögliche Invasion des Herzogs von Savoyen. Ab 1720 wurde sie für einen weiteren Zweck benutzt, den der Nächstenliebe. Sie wurde als Lazarett für Pestkranke eingesetzt, ab 1870 als Krankenstation für Verwundete.
Die Kapelle war zugleich ein Ort der Dankbarkeit. Fischer beteten um Schutz und guten Fang, andere dankten für erfahrene Hilfe. Noch heute erinnern unzählige Votivtafeln und auch gemalte Bilder an diese Praxis und an das enge Zusammenspiel von Glauben und Alltag in der Region.
Beständigkeit des Gebets und der Kirche
Die Geschichte dieser Kapelle und das Leben der Eremiten, von denen wir oft nur die Namen kennen, haben mich tief inspiriert und mehrere zentrale Erkenntnisse neu bewusst gemacht.
Dass an diesem Ort über Jahrhunderte bis heute gebetet wird, zeigt die dauerhafte Kraft des Glaubens, auch in Zeiten großer Veränderungen. Es ist ein Zeichen der Hoffnung. Die Kapelle zeigt uns, dass die Kirche trotz Krisen, politischen Umbrüchen oder gesellschaftlicher Veränderungen nicht untergeht.
Jesus selbst verspricht:
„Du bist Petrus, und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen, und die Pforten der Unterwelt werden sie nicht überwältigen.“ (Mt 16,18)
Der Katechismus der katholischen Kirche ergänzt:
„Die Kirche ist auf Erden immer sichtbar in der Zeit, und zugleich bleibt sie die heilige, unveränderliche Gemeinschaft der Gläubigen“ (KKK 552).
Dieses Wissen gibt Halt und Orientierung. Die beständige Präsenz der Kapelle mit ihren Betern über dem Hafen erinnert uns daran, dass Glaube, Gebet und Gemeinschaft die Kirche lebendig halten, über alle Stürme des Lebens hinweg.
Gebet und Nächstenliebe gehören zusammen
Die Eremiten waren Beter, Wächter und Ansprechpartner zugleich. Sie zeigen: Gebet und Nächstenliebe gehören zusammen.
• Ohne Gebet kann Nächstenliebe oberflächlich oder routiniert werden.
• Ohne Nächstenliebe kann Gebet leer oder isoliert wirken.
Auch heute gilt: Wer wach im Gebet bleibt, öffnet sich zugleich für die Menschen um sich herum.
Christen als Wächter
Wie die Eremiten sollen auch wir heute Wächter sein. Im Buch des Propheten Jesaja heißt es:
„Seht, ich habe Wächter auf deine Mauern gestellt, Jerusalem; sie sollen Tag und Nacht wachsam bleiben, und ihr sollt Gewissheit haben, dass sie rufen, solange ich es gebiete.“ (Jes 62,6)
In einer säkularisierten Welt bedeutet das: wach bleiben im Gebet, sich für andere einsetzen, aufmerksam sein für das, was geschieht, und im Dienst für die Gemeinschaft präsent sein.
Die Eremiten von Notre-Dame-de-la-Pitié lebten diese Wächterrolle in der Verbindung von Gebet, Dienst und Hingabe. Ihr Leben zeigt uns heute, dass geistliche Wachsamkeit und Nächstenliebe untrennbar zusammengehören – und dass jeder von uns, an seinem Ort, ein Wächter sein kann, im Herzen, im Gebet und im Dienst am Nächsten.
Eucharistische Anbetung und Maria – Wachen im Herzen
Die beiden Namen der Kapelle spiegeln eine weitere Botschaft: Notre-Dame de la Garde erinnert an Maria als Wächterin und Beschützerin, Notre-Dame de la Pitié an ihr Mitgefühl und die Bereitschaft, Leid zu teilen.
Das passt zur eucharistischen Anbetung: Wer in der Gegenwart Christi verweilt, bleibt wachsam und empfänglich. Maria zeigt, dass Anbetung nie nur innerlich bleibt, sondern immer auch zur Nächstenliebe führt. Wer im Gebet wach bleibt, kann wie Maria Mitgefühl leben und anderen helfen.
Die Kapelle vereint insofern alles, was wir von den Eremiten lernen können: Wachsamkeit, Gebet, Dienst und Mitgefühl. Sie lädt ein, still zu werden, aufmerksam zu sein, zu beten und zugleich bereit, das empfangene Licht weiterzugeben.
BILDNACHWEIS:
eigene Bilder